Galizien liegt nicht nur in Spanien:
Auf der Grenze zwischen der Ukraine und Polen
 

Der Zeitpunkt ist optimal: Ende Oktober ist es noch warm und sonnig, aber nicht mehr heiß. Auch das Jahr ist nicht schlecht gewählt. 2017 hält die Balance zwischen Öffnungswunsch und wachsender Spannung - noch. Was passiert, wenn sich der Machtkampf in der Region zuspitzt, will ich mir lieber nicht ausmalen.

So fahre ich – zusammen mit zehn anderen Frauen und Männern - sieben Tage lang unbehelligt und nur vom Kopftuch behindert durch Landschaften und Städte. Bewundere Kulturschätze und lasse den iranischen Alltag auf mich wirken, mit seinen Farben, Klängen, Gerüchen, Geschmäckern ... Was bleibt davon?

Der Safran, den ich mit nach Hause nehme, und das filigran bemalte grün-blaue Kästchen aus Kamelknochen. Der Tonband-Ruf des Muezzins, der fünfmal am Tag durch die Städte wabert – und sich im Ohr festgesetzt hat. Die Erinnerung an den mörderischen Verkehr, der die Luft verpestet, mich das Fürchten lehrt (wie komme ich bloß  über die Straße?) und Respekt abverlangt, so geschickt lavieren Pkw, Pickups, Busse, Laster und Zweiräder durch das Gewusel. Das „where-do-you-come-from“ von Passanten, die uns zuwinken, anlächeln, zum Stehenbleiben animieren.

Diese Begegnungen gehören zu den Highlights der Reise. Vor allem die jungen Frauen und Männer sind neugierig, stellen Fragen, wollen mit uns fotografiert werden, lassen sich (fast immer) fotografieren. Wir haben Spaß miteinander, lachen uns an, tauschen ein paar Informationen aus, rücken fürs Foto eng zusammen … Scheu registriere ich nur bei offenbar streng gläubigen Frauen, die den Tschador enger ziehen und sich abwenden. Apropos Tschador: Den tragen vor allem die Älteren. Die Jungen nehmen die Kleidungsvorschriften eher locker und lassen das Kopftuch schon mal hinter die Ohren rutschen.

Wir sehen sie schon von weitem, die kleine, uralte Holzkirche von Dębno, einem Dorf südlich von Krakau. Ihr Turm erinnert an einen Wehrturm, und der Zaun, der das Kirchlein aus dem 15. Jahrhundert hermetisch umgibt, verstärkt den Eindruck der Wehrhaftigkeit noch.
Drinnen geraten wir in einen Farbenrausch. Die Wände sind über und über mit Heiligenbildern und bunten Ornamenten bedeckt. Lange lassen wir die Augen wandern. Zum Schluss führt uns Pfarrer (gesprochen: Wadiswaw Janntschyk) ein Xylophon aus dem 15. Jahrhundert vor, das über eine ungewöhnliche Eigenschaft verfügt: Die dicken Metallplättchen klingen nicht tief, sondern hoch - und die dünnen nicht hoch, sondern tief.

Take 1
Ein Fragment dieser Melodie, die Sie eben aufgenommen haben, das war Wecklied vom Marienturm in Krakau. SINGT Was die Türmer spielen, die Türmer in Krakau jede volle Stunde spielen.

Krakau, die westlichste Stadt des alten Galizien, liegt schon hinter uns. Aber ihr südliches Flair, die Plätze, die alten Häuser und Kirchen gehen mir nicht aus dem Kopf. Und die Menschen, die noch schlendern können und sich an jeder Straßenecke von Pantomimen und Musikanten unterhalten lassen.

Wir wollen weiter nach Osten, über die polnisch-ukrainische Grenze, ins Herz einer Region, die einmal „Königreich Galizien und Lodemerien“ hieß und knapp 150 Jahre, bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Eine Region, in der viele Völker, Religionen und Kulturen lebten. Ukrainer, Polen, Rumänen, Russen - vor allem viele Juden.

Wir fahren nach Osten. Durch kleine Städte, die Jasło, Krosno oder Sanok heißen und Jugendstil und Renaissance vorweisen können. Vorbei an Soldatenfriedhöfen aus dem Ersten Weltkrieg, als hier Schlachten mit unendlich vielen Toten geschlagen wurden. Schließlich erreichen wir Przemyśl, früher die viertgrößte Stadt Galiziens - heute ein Ort ganz am Rand. Am Fuß des Schlossbergs liegt die Altstadt, mit steilen Strassen, prächtigen Kirchen und einem von imposanten Bürgerhäusern umgebenen Marktplatz. Von dort geht es hinunter zum San, einem Nebenfluss der Weichsel, über die Brücke, Richtung Grenze. Jetzt ist es nicht mehr weit bis Lwiw, wie die Ukrainer sagen, oder Lwow, wie die Stadt zu Sowjetzeiten hieß, oder Lemberg, der ehemaligen Hauptstadt des Königreichs Galizien und Lodomerien.
Auf der Westseite des Korso trumpfen prächtige Gründerzeitbauten auf. Hier pulsiert die Stadt, hier gibt es Gedränge auf den Bürgersteigen, hier stehen die Handy-Losen an den unzähligen öffentlichen Telefonen und reden, reden, reden. Hier zeigt sich Lemberg von seiner geschäftigen, geschäftlichen Seite.
Das alte Lemberg auf der anderen Seite des Korso wirkt verlassen, verloren. Als wir es am nächsten Tag erkunden, entdecken wir Häuser aus der Zeit der Renaissance, des Barock, des Klassizismus, des Jugendstil – vieles erhalten bis ins kleinste Detail. Aber dieser Schatz wird nur am Ringplatz gewürdigt: Dort sind die meisten Häuser restauriert. In den Seitenstraßen begegnet uns das arme Lemberg, mit heruntergekommenen Häusern und Straßen. Hier bedrängen uns Bettler. Hier sitzt ein Junge auf der Bordsteinkante und schnüffelt. Hier liegt ein Obdachloser wie tot auf dem Bürgersteig. Und niemand kümmert sich darum.

Die vielen Kirchen sind auf Hochglanz geputzt, allen voran die griechisch-katholische Kathedrale, ein Rokokobau, der zum Papstbesuch vor vier Jahren frisch renoviert wurde.
Griechisch-katholisch – das ist die Religion der Ukrainer. Seit 1991, dem Datum der staatlichen Unabhängigkeit, hat sie mächtigen Aufwind bekommen. Römisch-katholisch – das sind die Polen, die 10 Prozent der Lemberger Bevölkerung ausmachen. Immerhin gehörte die Stadt von 1918 bis 1939 zu Polen. Russisch-orthodox – das ist die Religion der Russen, auf die man hier im Westen der Ukraine eher auf Distanz geht. Und dann gibt es noch die armenischen Christen ... Und sie alle haben ihre Kirchen, prächtige Kirchen.
Bei den Juden ist das anders. Vor dem Holocaust gab es mehr als 40 Synagogen in Lemberg - heute sind es zwei. Bis 1941 lebten 160 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in der Stadt, das waren 45 Prozent der Bevölkerung – heute sind es 2000.
Boris Dorfmann zeigt uns das vergangene jüdische Lemberg. Er führt uns von einem Ruinengrundstück zum nächsten und erklärt in einer Mischung aus deutsch, jiddisch und russisch: Hier stand die große Synagoge, hier die „goldene rois“, hier die orthodoxe Synagoge. Einige Mauerreste sind mit Hakenkreuz-Graffitis beschmiert, oder mit Galgen, an denen ein Davidstern hängt. Auf unsere Frage nach den „Urhebern“ zuckt Boris Dorfmann die Schultern. Antisemiten, meint er lakonisch. Am Ende des Rundgangs zeigt er uns die einzige „aktive“ Synagoge von Lemberg.

Take 2
Das ist eine von den letzten Synagogen, die gebaut wurden, 1931 - und sie hat existiert zehn Jahr. In 1941, wenn hat begonnen der Krieg, hat man die Synagoge geschlossen. 

Und die deutschen Besatzer funktionierten sie um, zu einer Lagerhalle. Nach dem Krieg wurde es nicht besser: Auch die Rote Armee benutzte das Gebäude als Lager, bis es schließlich ganz heruntergekommen war.

Take 3
Und die Synagoge hat man nun gegeben zurück in 1991. Und - zu uns ist gekommen ein junger Rabbin von New York, und er arbeitet schon da viel Jahr ...

Mittlerweile gibt es in der Synagoge eine Heizung und wackliges Gestühl. Zweimal am Tag findet ein Gottesdienst statt. Auch die Sonntagsschule arbeitet wieder. Aber hier ist es wie überall im Land: Viele Junge gehen fort, in den Westen. Nur die Alten bleiben - aber sie machen weiter. Welche Energie sie haben, das beweist Boris Dorfmann am Ende dieses anstrengenden Tages. Er singt.

Am nächsten Morgen treffen wir Alfred Schreyer. Mit ihm fahren wir nach Drohobyč: eine alte Industrie-Stadt achtzig Kilometer südwestlich von Lemberg.
Alfred Schreyer stammt aus Drohobyč und hat als einziger seiner Familie den Holocaust überlebt. Unterwegs machen wir halt, und Schreyer geht mit uns ins Bronitzer Wäldchen. Hier wurden 11000 Juden aus Drohobyč und Umgebung ermordet. Riesige Betonplatten decken die Massengräber heute ab, und am Weg erinnern zehn Grabsteine an zehn Menschen. Auf einem Stein steht der Name Leontyne Schreyer, der Name von Alfred Schreyers Mutter.
In der Stadt angekommen, erzählt uns Alfred Schreyer von Bruno Schulz, der in Drohobyč geboren wurde, lebte und starb. Schulz war vor allem Schriftsteller, schrieb surrealistische Texte, die ihm den Namen „galizischer Kafka“ eingebrachten. Aber er malte auch und gab Zeichenunterricht am Gymnasium. Und er war Jude.

Take 4
Dieses Gebäude, das war Judenrat. Von hier weiter war das Ghetto. Das Ghetto Territorial in Drohobyč war sehr groß, aber nicht mit dem Zaun umgekreist. Sondern überall, wo sich Ghetto angefangen hat, stand eine Tafel, gelbe Tafel mit schwarzer Inschrift in deutsch, ukrainisch und polnisch: Achtung, Judenwohnviertel, das betreten wird mit dem Tode bestraft.

Genau an der Stelle, wo wir stehen, wurde Bruno Schulz im November 1942 erschossen. Eigentlich gehörte er zu den Juden, die von Gestapo und SS protegiert wurden, weil sie nützlich waren. Bruno Schulz katalogisierte zum Beispiel geraubte Gegenstände, und er malte Räume aus, das Kasino der Gestapo, die Wohnung des Gestapochefs ... Deshalb hielt der seine Hand über Schulz. Aber eines Tages wollte sein Stellvertreter sich an seinem Chef rächen – und nutzte dazu eine so genannte „wilde Aktion“.

Take 5
Jeder Jude, welcher auf der Straße getroffen war, war erschossen. Und an diesem Tag hat man 265 Juden erschossen. Und es kam Bruno Schulz hierher, um Brot zu holen – und plötzlich kam von oben der Bandit Günter, der hat ihn gesehen und dann mit Laufschritt ... - Und Bruno Schulz ist stehen geblieben. – Er dachte wahrscheinlich, er wird nicht schießen, weil er für SS ziemlich wichtige Arbeit macht.

Aber Karl Günter schoss, zweimal – und befahl, den Toten liegen zu lassen.
Alfred Schreyer hat Bruno Schulz, seinen Lehrer, nie vergessen. Immer wieder hat er von ihm erzählt, immer wieder hat er nach seinen Fresken gesucht. Er war dabei, als 2001 ein deutscher Filmemacher einen Fries mit Märchenfiguren entdeckte, in der ehemaligen Wohnung des ehemaligen Gestapo-Chefs. Einen Fries mit Königen, Flötenspielern, Zwergen und Ungeheuern – romantische Figuren mit skurrilen Gesichtern, wie nur Bruno Schulz sie gemalt hat. Wenig später waren die Fresken verschwunden. Leute von Yad Vashem, der israelischen Holocaust-Gedenkstätte, waren da gewesen und hatten sie kurzerhand mitgenommen.

Unser nächstes Ziel ist Brody, eine Kleinstadt rund 100 Kilometer von Lemberg entfernt. Am liebsten würden wir mit dem Zug dort hinfahren – schon wegen der Bahnhöfe. Der Lemberger ist gerade hundert Jahre alt geworden: ein Gebäude wie ein Schloss, mit einer riesigen Empfangshalle, prächtigen Bahnsteigen, einem Wartesaal mit Säulen, Spiegeln und Kronleuchtern ...
In Brody treffen wir auf eine kleine Ausgabe des großen Lemberger Bruders. Wir sind zwar nicht mit dem Zug gekommen, sondern mit dem Bus. Aber wir genießen im Brodyer Bahnhof ein wunderbares Mittagessen, mit vielen kleinen raffinierten Gerichten. Draußen quirlt unterdessen das Leben. Busse, Fuhrwerke, Autos und Fahrräder kommen und fahren wieder ab. Junge Leute schleppen dicken Taschen, Rucksäcke, Plastiktüten zu den Bahnsteigen. Das sind unsere Studenten, erklärt man uns. Sie haben das Wochenende bei ihren Eltern verbracht und fahren jetzt wieder zurück. Und das viele Gepäck? Lebensmittel, ist die knappe Antwort. Aus eigener Produktion. Ohne Selbstversorgung kommen viele ukrainische Familien nicht über die Runden.

Aber wir sind nicht wegen des Bahnhofs nach Brody gekommen, sondern wegen Josef Roth, einem Schriftsteller und Journalisten, dessen Romane immer wieder den Untergang der KuK-Monarchie thematisieren. Roth ist in der kleinen Provinzstadt geboren und zur Schule gegangen.
Bis heute ist Brody tiefste Provinz – aber ein bisschen „Europa“ liegt schon in der Luft. „Dank Joseph Roth“, erklärt uns die Lehrerin Dana Melnik. Sie hat durchgesetzt, dass man sich an Roths altem Gymnasium wieder an den Dichter erinnert – und dass man dort deutsch lernen kann.

Take 6
Also wir sind im Gebäude des ehemaligen KuK-Gymnasium, und das heutige Josef Roth Gymnasium ...

Im ersten Stock der Schule gibt es eine kleine Ausstellung. Da sind Fotos zu sehen und Zeitungsartikel, die Joseph Roth in den großen deutschsprachigen Zeitungen veröffentlicht hat. Und in einer Vitrine liegen seine Romane: Radetzkymarsch, Hotel Savoy, Hiob ...

Take 7
Joseph Roth, er war der Klassenbeste. Er konnte fast für die ganze Klasse die Aufsätze schreiben. – Und hier, in diesen Schuljahren, begann Joseph Roth seine ersten Erzählungen, seine ersten Gedichte zu schreiben. Ich habe meinen Schülern vieles Interessante über Joseph Roth erzählt, ihnen einige Ausschnitte aus dem Roman „Radetzkymarsch“ vorgelesen und wir haben besprochen. Und ich habe ihnen ein – Gedicht vorgelesen, und das Gedicht lautet: Ich weiß nicht wo.

Eine 14jährige Schülerin von Dana Melnik fühlte sich von dem Gedicht herausgefordert. Sie schrieb es um: Sie machte aus Roths Verszeile: „Ich weiß nicht wo“ ein „Ich weiß wo“ und setzte Roths Gefühl der Verlorenheit ihre Verbundenheit mit Brody entgegen.

Take 8
Du warst einmal ein kleines Kind, ich bin jetzt so - Und höre im Schornstein den Wind. Ich weiß wo. Du hast einmal gehört ein Lied, es klingt bis jetzt zart so, als du von deiner Heimat schiedst. Ich weiß wo. - Ich weiß wo. Das ist in meiner Stadt. Das ist auch die Stadt von Josef Roth. Das ist unsere Stadt, unser Brody. Viel ist anders hier jetzt. Aber die alten Steine sind noch da. Einige alte Häuser. Die alte jüdische Synagoge, unsere Schule. Sie alle sind Geschichte. Joseph Roth ist auch eine Geschichte. Er ist Geschichte meiner Stadt, Österreichs, ganz Europas.

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