Ein riesiger Schneeräumer gräbt uns aus ©dsk

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Echter Schnee und dunkle Nächte
Schweden im Winter 2011/2012
 

Sechs Auto-Stunden nördlich von Oslo und 30 Kilometer hinter der norwegisch-schwedischen Grenze liegt das Dorf Idre: die südlichste Samen-Siedlung und gleichzeitig das südlichste Skigebiet Schwedens. Im Winter ist da allerhand los – aber ein paar Kilometer weiter ist es einfach still. Und genau da wollten wir hin.

Vier Uhr nachmittags. Es ist stockdunkel, nur der Schnee leuchtet schwach. Endlich tauchen die Lichter von Idre auf. Jetzt heißt es aufpassen, denn gleich kommt die Schotterpiste, in die wir einbiegen müssen. Von da geht es fünf Kilometer auf festem Schnee hügelauf-hügelab durch den Wald. Dann ein blaues Schild „Stugby“ und linkerhand hinter Bäumen das erste von zwanzig Holzhäusern. Zwei Wochen werden wir es eines davon bewohnen.
Um halb acht am nächsten Morgen zeigt sich hinter den Bäumen das erste gelb-rosa Licht. Auf der anderen Flussseite, weit oben am Hang flimmern die Lichter von Idre-Fjäll, dem Skigebiet. Dort sind auch längst die Pistenbullis unterwegs. Aber bei uns ist es still, ganz still. Beim ersten Gang durch die kleine Siedlung stellen wir fest: Wir sind allein. Mitten im Wald. So und nicht anders wollten wir es haben!

Der Schnee ist fantastisch, zwanzig Zentimeter hoch und pulvertrocken. Was machen wir als erstes – Skier oder Schneeschuhe? Wir entscheiden uns für die Schneeschuhe, schließlich wollen wir unbekanntes Gelände erkunden. Breitbeinig - so hatte ich mir das Schneeschuh-Gehen vorgestellt. Ist aber gar nicht nötig. Trotzdem verändert sich der Gang: Als Frau von Einssechzig mache ich plötzlich Riesenschritte. Langsame Riesenschritte. Und anstrengende Riesenschritte. Denn trotz mehrfach vergrößerter Füße sinke ich in den dicken Pulverschnee gut zwanzig Zentimeter ein.
Wir laufen weg vom Fluss auf die umliegenden Hügel. Und sind erst einmal ganz mit uns selbst beschäftigt. Einen Rhythmus finden. Schön hintereinander gehen – das macht die Sache leichter. Aber dann hebt sich langsam der Blick. Die kleinen Kiefern in ihren Schneemänteln sehen aus wie Zwerge. Da, Bissspuren an den dünnen Birkenstämmen. Von einem Elch vermutlich - der Wald soll voll davon sein. Eine Spur im Schnee – ein Hase. Dann sind wir am Rand einer Lichtung und haben einen Panoramablick. Unter uns nichts als Wald. Nadelwald, grün und weiß, so weit das Auge reicht. Dahinter in der Ferne – fünfzig Kilometer, sagt später die Karte – ein weißer langgestreckter Bergrücken. Ein Ausläufer des Fjälls.
Es geht noch höher hinauf, quer über die Lichtung. Jetzt erst machen die Schneeschuhe richtig Sinn. Denn wir stapfen über Stock und Stein, über verschneite Büsche und Stubben und Steine. Manchmal sinken wir ein, hieven uns hoch, rutschen ab – und kommen uns trotzdem wie Riesen vor, die auf großem Fuß schweres Gelände durchqueren.
Endlich sind wir oben. Windstille. Der Wald unter uns. Linkerhand Idre-Fjäll, das Skigebiet. Und dahinter der Städjan. Ein von Eiszeit-Gletschern rundgeschliffener Berg von knapp 1200 Metern, vereinzelt in der Landschaft stehend. Weiß, majestätisch, unberührt. Da geht im Winter so schnell niemand hoch.

Lange Abende am Holz-Ofen, mit Blick auf die flimmernden Lichter des Skidorfs, fünf, sechs Kilometer Luftlinie entfernt. Oder in der hauseigenen Sauna, nach der ein Sprung ind den Pulverschnee obligatorisch ist. Das kribbelt und beißt und glüht … Spät abends gucken wir Sterne. Dazu ein klarer Halbmond. Leider kein Nordlicht!

Schneeschuhe – Skier – Schneeschuhe – Skier … Jeden Tag eine andere Tour, ein anderes Fortbewegungsmittel. Auf Skiern sind wir schneller und leiser – auf Schneeschuhen eindeutig entspannter. Und wir sehen genauer hin, entdecken die bärtigen Flechten an den Bäumen oder die riesigen Kristalle, die von der Kälte aus dem Schnee herausgetrieben werden. Nur von Elchen und Hasen, Vielfraßen und Luchsen ist nichts zu sehen. Kein Wunder eigentlich, wir fühlen uns ja selbst wie Dampfwalzen...

Wetterumschwung. Schon am Abend vorher kündigt das Licht ihn an: statt rosa und hellblau wirken Wald und Berge, als seien sie mit blauer Tinte übergossen. Dann kommt Wind auf, zum ersten Mal. Die bisher stoisch dastehenden Kiefern und Fichten beginnen zu brausen, der Schnee stäubt, es tropft, die erste Dachlawine donnert herunter.
Kaum ist das Dach frei, fängt es wieder ganz fein an zu schneien. Anderthalb Tage lang. Wir versinken langsam, die Welt wird eng.
Abends um sechs braust das Räumfahrzeug heran, ein Riesengerät mit zwei Meter hohen Reifen und beeindruckender Schaufel. Fünfmal fährt es systematisch über unseren Hof und räumt Bahn für Bahn frei. Wir laufen zum Auto und folgen dem Räumfahrzeug Richtung Idre – nun wollen wir uns doch im Supermarkt ein paar Vorräte zulegen. Wer weiß, ob Hof und Waldpiste nicht am nächsten Morgen wieder derart zugeschneit sind, dass wir mit dem Auto nicht durchkommen.

Der letzte Tag ist glasklar! Es gibt kein besseres Wort. Minus 22 Grad, Sonne, kein Wind. Einmal wollen wir doch ins Skigebiet und in die Loipe. Wie leicht und schnell wir in der vorgestanzten Spur voran kommen. Wie elegant wir hier die Kurven nehmen. Und welches Vergnügen, hier abwärts zu sausen. Klar, die anderen Skifahrer sind schneller und sportlicher und chicer. Selbst ein mitlaufender Hund trägt modisch bunte Socken an allen vier Pfoten.
Über dem Städjan geht der Vollmond auf. Auf der anderen Seite geht die Sonne ganz langsam unter und hinterlässt eine Welt in goldrosa Schnee.
Spät am Abend ein letzter Gang in den Wald. Silberweiß die Landschaft, die Bäume, die Felsbrocken. Ob der Luchs vorbeikommt? Wir sind still. Es ist schweinekalt. Wir warten. Der Luchs kommt nicht.

Am nächsten Morgen schneit es wieder. Und wir haben vierhundert Kilometer bis Oslo, bis zur Fähre nach Kiel vor uns. Langsam fahren wir Richtung Grenze. Da – Elche! Zwei stattliche Tiere liegen keine zwanzig Meter neben der Straße, das Hinterteil dem Wind und dem Schnee zugewandt, und käuen seelenruhig wieder!

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