Die Venta bei Kuldiga (Kurland) ©Martin Brand

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Fluss - Stadt - Land
Lettland im Sommer
 

Am meisten haben mich die Flüsse fasziniert: die Daugava (Düna), die Gauja, die Venta. In Riga, kurz vor der Mündung, ist die Daugava knapp einen Kilometer breit. Einen Kilometer! Ein veritabler Strom, fast ohne Schiffe in Pandemie-Zeiten. Majestätisch, funkelnd, ruhig, frisch. Dass sich darüber der Autoverkehr im Dauer-Stau quält, kann man auf der Vanšu-Brücke fast vergessen: So schön ist der Blick auf die Altstadt von Riga. Da recken sich Kirchtürme und Burgen, da stapeln sich die Dächer, da behauptet sich Grün … Die Türme aus Glas und Stahl sind fast alle auf die andere Flussseite verbannt.

Die Gauja und die Venta sind - anders als die Daugava mit ihren befestigten Ufern - „naturbelassen“. Sie können fließen wie sie wollen. Ihr Wasser verirrt sich in Nebenarme und Tümpel, erlaubt dem Grünzeug, am Ufer und im Flussbett zu wuchern, spült Sandbänke auf … Das wirkt wie von vorgestern – aber die Welt der Rekorde ist auch in Lettland zu Hause. Die Venta, so unsere Reiseleiterin Maria voll Stolz, hat in Kuldiga den breitesten Wasserfall Europas zu bieten! Allerdings ist die Fallhöhe – geschätzt – nicht einmal zwei Meter! Was den Frauen, Männern, Kindern und Hunden den Spaß nicht verdirbt, im knietiefen Wasser entlang der Kante von einer Seite zur anderen zu waten.

Eigentlich bin ich nicht wegen der Flüsse oder der stillen, oft menschenleeren Ostseeküste nach Lettland gefahren. Meine Triebkraft war die Geschichte, das Hin und Her des Landes zwischen Großmächten, die Bedeutung der Unabhängigkeit, die das Land heute bestimmt. Zum Mitschreiben: Der erste souveräne lettische Staat wurde erst 1918 gegründet. Davor herrschten jahrhundertelang andere: Deutsche (Kirche, Orden, Kaufleute), Russen, Schweden, Polen, Litauer … 1940 war es mit der Unabhängigkeit schon wieder vorbei, Lettland wurde der Sowjetunion zugeschlagen (Hitler-Stalin-Pakt). Ein Jahr später marschierten die deutschen Nationalsozialisten ein, nach dem Krieg wurde das Land erneut sowjetisch. Erst 1991 konnten die Letten wieder einen eigenen unabhängigen Staat gründen, westorientiert, mit angstvollem Blick Richtung Russland.
Vielleicht ist es kein Wunder, dass in der heutigen Erinnerung die „Sowjetzeit“ (1+46 Jahre) mit ihren brutalen Repressionen die mörderische Nazi-Herrschaft (3 Jahre) weitgehend überdeckt. Sicher: Es existiert eine manifestierte Erinnerung an den Holocaust, in den Wäldern von Rumbula und Biķernieki, in den Dünen von Šķēde (Liepāja), den Orten des Mordens und der Massengräber. Und in Riga gibt es ein Holocaust-Museum und ein jüdisches Museum. Aber damit scheint das Thema „abgehakt“. Ob und wie die Beteiligung lettischer SS-Verbände und Hilfspolizei aufgearbeitet wird, wird sich zeigen.

Eine andere Form der Selbstvergewisserung – neben der staatlichen - liefert die Kultur, die Dichtung, die Musik. Vor rund hundert Jahren hat ein Krišjānis Barons gut 200 000 lettische Lieder (Dainas) gesammelt. Ein Schatz, der fast wie ein Heiligtum betrachtet wird – und lebendig ist. Auf der Straße, wo eine alte Frau mit Gesang ein paar Euro verdienen will, in der Kellerkneipe, wo eine Band rockige Interpretationen spielt ...  Andere Schätze zum Vorzeigen: Jugendstil vom Feinsten in Riga, ehemalige Ordensburgen entlang der Flüsse, Rundale, ein Klein-Versailles im Nirgendwo, alte deutsch-baltische Landgüter, Steilküsten (Jurkalne), garantiert touristenfrei, Sandstrände …

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