Ulrike Draesner stellte im Literaturhaus Stuttgart "Die Verwandelten" vor.
Gleichzeitig wurde eine Ausstellung zum Roman eröffnet ©dsk

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Lebensborn in der Literatur -
der neue Roman von Ulrike Draesner
 

„Es gibt Suchen, bei denen man weiß, was man sucht, und Suchen, bei denen man sucht, was man sucht.“
Ein Satz, der die Suchbewegung vieler Lebensborn-Kinder präzise erfasst. Ein Satz aus dem neuen Roman der Schriftstellerin Ulrike Draesner - einer von vielen klugen, genauen Sätzen. Dass eine Autorin, die so schreiben, denken, empfinden kann, das Thema Lebensborn aufgreift, reflektiert, in große Zusammenhänge stellt – und ihm gerecht wird, ist eine Freude.

„Die Verwandelten“ ist kein einfaches Buch. Es gibt viele Personen, viele Orte, viele Zeitebenen. Dabei ist es spannend und aufwühlend, es nimmt Lesende mit auf die Reise nach Steinhöring, ins erste Lebensborn-Heim, nach Breslau und später Wrocław, in die Nazi-Zeit, den Krieg und den Nachkrieg.
Im Mittelpunkt steht eine Familie, Vater, Mutter, Kind, dazu kommt Adele, die Hausangestellte. Diese Frau ist der gute Geist des Hauses: Sie sorgt für eine exquisite Küche, auch in schlechten Zeiten, ´tröstet´ den Hausherrn bis hin zu einvernehmlichem Sex, wird schwanger – und muss aus dem Blickfeld verschwinden. Wohin ist schnell klar: Ins Lebensborn-Heim. Wir schreiben das Jahr 1938.

Musste es Lebensborn sein, habe ich Ulrike Draesner gefragt, reichte nicht die Dienstmädchen-Geschichte? Nein. Der Lebensborn war ein Zugriff auf weibliche Körper – und damit meint die Schriftstellerin nicht „Zuchtanstalt“. Dem Lebensborn ging es, so Draesner, um die Produktion von Menschen, für den Krieg, das Schlachtfeld, den Menschennachschub. Mit Hilfe „staatlich geförderter Lügen“, „staatlich gefördertem Kinderbetrug“ – und sozial bemäntelt. Und dann zitiert sie Himmler im O-Ton – sie hat die Quellen studiert.

Auch jenseits des Lebensborn-Themas reflektiert Draesner den „Zugriff auf weibliche Körper“: In Adeles Anhängigkeit von ihrem Dienstherrn (der Bogen zur Me-Too-Debatte stellt sich im Gespräch wie von selbst ein), in den Vergewaltigungen am Kriegsende … Selten habe ich eine sensiblere Darstellung dieser Brutalitäten gelesen, in ihrer körperlichen, ihrer seelischen, ihrer sozialen Zerstörungskraft.

Aber zurück zum Thema Lebensborn. Vier Monate bleibt Adele im Lebensborn-Heim Steinhöring, dann kehrt sie – gegen die Absprache – mit dem Kind an ihren Arbeitsplatz zurück. Das Mädchen wird geduldet und irgendwie auch geliebt, doch dann geht es nicht mehr: die Chefin macht Druck, die Doppelbelastung zermürbt Adele, und die Angst vor Entdeckung der tatsächlichen Konstellation wächst mit dem Alter des Mädchens. Also wird die mittlerweile Vierjährige zurück ins Lebensborn-Heim gebracht und an ein kinderloses Ehepaar vermittelt. Glühende Nationalsozialisten, die Alissa in eine Gerhild „verwandeln“.
Als der Krieg aus ist, macht sich Adele auf die Suche nach ihrem Kind, zerrissen zwischen ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit und einer unerwarteten Mutterliebe. Nach wochenlanger Wanderung kommt sie nach Steinhöring, aber das Haus ist leer, die Kinder sind fort, alle Spuren ihrer Tochter sind ausgelöscht.
Tatsächlich lebten nach Kriegsende ungefähr 160 Kinder in ehemaligen Lebensborn-Heim Steinhöring. Letzte Frage an Ulrike Draesner: In Ihrem Roman ist das Haus leer, warum? Weil das verlassene, leere Haus die soziale und psychische Situation der Figur spiegelt. Adele, die Lebensborn-Mutter, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen – und nun verliert sie die letzte Bindung, die sie in sich getragen hat, die Bindung an ihr Kind, das sie damals fortgeben wollte und nicht fortgeben wollte. Sie fühlt sich leer und verlassen – in einem leeren, verlassenen Haus.

Einverstanden. Das darf Literatur wohl – wenn die Basics stimmen.

Ulrike Draesner: Die Verwandelten. Penguin Verlag.
ISBN 978-3-328-60172-2. 26 Euro

Am 13. September 2023 wurde im Stuttgarter Literaturhaus eine Ausstellung zum Roman eröffnet. Und Ulrike Draesner las und sprach über ihr Buch

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