An der estnischen Nordküste:
Bootsschuppen im alten Fischerdorf Altja ©dsk
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Moor und Meer
Eine Vogelexpedition in Estland
 

Den ganzen Tag draußen sein, in einer Landschaft, die von menschlicher Gestaltungswut weitgehend verschont ist – das war die Verlockung. Also bin ich mit sieben VogelfreundInnen und dem Berliner Wildtierexperten Derk Ehlert für eine Woche nach Estland gefahren. Zur Vogelbeobachtung, so die Ankündigung.

Für die „birder“ war die Reise ein Knaller. 158 Vogelarten wurden gesichtet oder zumindest gehört! Wegen schlechter Ohren und mangelnder Übung habe ich zwar mehr als die Hälfte verpasst. Aber auch ich habe Adler und Birkhühner, Kuckucke und Eisenten, Prachttaucher, Ziegenmelker, Karmingimpel und und und … gesehen und oft auch gehört. Sogar das hüüp hüüp der Rohrdommel – die in Estland wirklich „Hüüp“ heißt. Und vor allem: Ich war stundenlang draußen, Tag für Tag! Auch zu Zeiten, die ich sonst verschlafe: Sonnenaufgänge zum Beispiel oder Nachtdunkel …

Standort Nummer eins: die Nordküste Estlands, wo es Strände und Sümpfe gibt, kleine Inseln, Flachwasserzonen – und vor allem Steine, Steine, Steine. Manchmal liegen haushohe Brocken da, eine Hinterlassenschaft der Eiszeit. Der Wald reicht bis an die Küste heran, wie oft an der Ostsee – die in Estland übrigens Westsee heißt. Hier sind es Kiefern, Fichten, vereinzelt Birken, darunter liegen umgekippte Stämme und Steinbrocken, moosbewachsen und flechtenverziert. Zum Inhalieren der ganzen Schönheit bleibt mir neben Vogelgucken genug Zeit. Während die anderen ausdauernd mit Ferngläsern und Kameras beschäftigt sind, in Bestimmungsbüchern blättern, das Spektiv hierhin und dorthin setzen, stehe ich oft da und schaue. Sonst nichts.

Ein Abstecher ins Landesinnere, Richtung russische Grenze. Unterwegs Nato-Kolonnen: Jeeps, Panzerspähwagen, Panzer, Tarnnetze, geschwärzte Gesichter. Wir verziehen uns im Nirgendwo in eine Bärenbeobachtungshütte. Um 17 Uhr ist „Einschluss“, erst am nächsten Morgen um 7 dürfen wir wieder raus. Zwei sitzen tatsächlich 14 Stunden lang auf Beobachtungsposten, im Blick den nahen Waldrand auf der einen Seite, die weite Wiese auf der anderen. Zuerst kommen die Vögel, darunter Karmingimpel. Sie überwintern in Indien, erzählt Derk Ehlert, und fressen sich dort an Schildläusen satt. Davon werden sie rot, je älter, desto röter – und attraktiver für Frau Karmingimpel.
Es folgt der Auftritt eines Marderhunds, der ein bisschen an einen Waschbären erinnert. Danach passiert lange nichts. Es ist fast dunkel, als der Bär sich zeigt – und schon ist er wieder weg, weil in der Hütte irgendwas poltert. Dann eine Bewegung auf der Wiesenseite, direkt am Salzleckstein. Ein Mister Elch kann dem Lockmittel nicht widerstehen. Ein mächtiges Tier, das seine Leck-Orgie nur unterbricht, um sich an einem Baum zu schubbern. Plötzlich nähert sich etwas Dunkles. Der Elch macht eine heftige Bewegung, ein Tritt, das dunkle Etwas - es ist der Bär - schlägt sich blitzschnell in die Büsche. Nach ein paar Stunden (die ich liegend verbringe) der leise Ruf: Der Bär kommt. Jetzt steht er keine zehn Meter von uns entfernt, die Silhouette ist gut zu sehen. Und schon ist er wieder weg. Später treibt sich an derselben Stelle ein nervöser Keiler herum. Auf der anderen Seite kommen noch ein Reh und ein Dachs vorbei - damit ist die Vorstellung zu Ende. Und wir dürfen im Hotel ein paar Stunden schlafen.

Standort Nummer zwei: die estnische Westküste. Flach, grün, schilfig, Buchten, Inseln und Inselchen – ein Paradies für Wasservögel. Selbst am Ufer des alten Badeorts Haapsalu brüten alle Sorten von Tauchern, Sägern, Möwen, Enten, Schwänen ... Auch hier liegt mein Highlight Nummer zwei im Hinterland: eine ganz-früh-morgendliche Wanderung durch ein riesiges Hochmoor. Vor Sonnenaufgang geht´s los, der Boden ist reifbedeckt, darüber ziehen Nebelschwaden … romantisch! Als wir aus dem Wald herauskommen, hören wie sie schon. Ein ununterbrochenes Brrrrrbrrrrbrrrr in verschiedenen Tonlagen … das sind Birkhühner, genauer balzende Birkhähne. Je weiter wir ins Moor hineinlaufen (auf Holzplanken), desto lauter wird das Brrrrrrbrrrr, schließlich ist die ganze Luft davon erfüllt. Dass geschätzt 20 Tiere so einen Sound erzeugen können! Und dann sehen wir sie, weit entfernt, durchs Fernglas mache ich gerade mal den roten Augenkamm und die aufgestellten weißen Schwanzfedern aus. Um 7 Uhr ist plötzlich Schluss – wie Derk Ehlert angekündigt hat. Da steht die Sonne schon hoch, der Reif ist aufgetaut, die Nebelschwaden sind verschwunden. 

Kleine Kulturhäppchen gibts oben drauf. Zum Beispiel den alten Bahnhof von Haapsalu, wo einmal der russische Zar und der Komponist Peter Tschaikowski ankamen, um im Ort zu kuren. Oder eine Schlossruine, um die sich die romantische Geschichte einer Merseburger Prinzessin und eines ortsansässigen Adligen rankt. Er konnte seine Angebetete nur durch den exakten Nachbau ihres heimatlichen Schlosses in den Osten locken. Leider starb sie, bevor es fertig war. Oder das ehemalige Gut eines Deutsch-Balten, in dessen Park wir natürlich - Vögel beobachten. Schließlich Tallinn in zwei Stunden. Ein schöner kleiner Eindruck nur – da möchte man noch mal hinfahren. Vielleicht zum berühmten Sängerfest in zwei Jahren?

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