
![]() |
Bücher, in denen die SS-Organisation Lebensborn eine Rolle spielt … |
Unbrauchbare Väter Jahrelang haben sie mich nicht interessiert, die Lebensborn-Väter. Kaum hatte ich die Alltagsstudie veröffentlicht, meldeten sich „Lebensborn-Kinder“ bei mir: Frauen und Männer, die in einem der SS-Heime geboren oder untergebracht waren und damit haderten. Oft war es der Vater, den sie nicht kannten, von dem sie nicht einmal den Namen wussten. Weil er in keiner Urkunde auftauchte, weil er von einer schweigenden Mutter geheim halten wurde, weil er sich nie gemeldet hatte … Können Sie mir helfen ihn zu finden? Wie oft ich diesen Satz gehört oder gelesen habe. Einigen konnte ich helfen – den meisten nicht. Oder nur indirekt, indem ich anfing, über Lebensborn-Kinder zu schreiben, ihre Geschichten öffentlich zu machen – und damit zur Selbstverständigung der Betroffenen beizutragen. Die Väter blieben dabei eine Randerscheinung – und mit dieser Ignoranz war ich guter Gesellschaft. In der Literatur über den Lebensborn spielen sie so gut wie keine Rolle. Mit der Zeit wuchs allerdings meine Empörung über diese Männer. Einer hatte sich davon gemacht, als seine Braut schwanger wurde – von Heirat war keine Rede mehr. Ein anderer unterstellte seiner Partnerin plötzlich „Mehrverkehr“. Woher solle er wissen, argumentierte er, dass er der Erzeuger ist? Ein dritter brachte seine Ehefrau in einem Lebensborn-Heim unter, danach war sein Interesse an Frau und Kind verschwunden. Seine Tochter hat ihn nie kennen gelernt. Nein. Mit solchen Männern wollte ich mich nicht näher beschäftigen. Nur: Irgendwann ließen sie sich nicht mehr beiseiteschieben. Aus den Dokumenten, die ich im Laufe der Zeit zusammengetragen hatte, aus den Interviews mit ihren Kindern und deren Müttern lernte ich sie immer genauer kennen. Sollte ich sie wirklich beiseitelassen? Sie waren schließlich essentieller Bestandteil der Triade Vater-Mutter-Kind. Und war es nicht ihr Verhalten, das in vielen Fällen das Geschehen bestimmt und letztlich die Weichen für die Zukunft ihres Lebensborn-Kindes gestellt hatte? Jetzt wollte ich doch genauer wissen, wer sie waren, diese Lebensborn-Väter. Egoisten, für die nur die eigene Lust zählte? Blind Verliebte, die nicht an die Folgen dachten? Frustrierte Ehemänner auf Abenteuer? Karrieristen, die Vorzeige-Kinder brauchten, um weiter nach oben zu kommen? Untertanen, die Himmlers Zeugungspropaganda in die Tat umgesetzt hatten? Rassisten, die zur Vergrößerung der „arischen Rasse“ beitragen wollten? Oder einfach ganz normale Männer? Sie selbst zu fragen, dazu war es zu spät. Dazu war es schon zu spät, als ich meine Alltagsstudie startete. Viele Lebensborn-Väter waren damals bereits gestorben, und die Lebenden blieben in der Deckung. Aber ich hatte ja die Berichte ihrer Partnerinnen und ihrer Kinder. Und eine Fülle von Dokumenten, in denen es um die Väter geht und in denen sie manchmal sogar selbst zu Wort kommen. Dass ich aus einer Frauenperspektive schreibe, über Menschen, die in der schlimmsten Zeit des vorigen Jahrhunderts gelebt haben, macht die Sache nicht einfacher. Mit diesem Problem hatte ich allerdings schon bei der Beschäftigung mit Lebensborn-Müttern und -Angestellten zu tun. Damals stellte ich fest: Je genauer ich ihre Geschichten kannte, desto besser ´verstand´ ich, warum sie in eins der Lebensborn-Heime gegangen waren, um dort zu entbinden, um dort zu arbeiten. Manchmal entwickelte ich sogar ein gewisses Mitgefühl, wenn mir klar wurde, wie stark der Druck von Doppelmoral und Diskriminierung auf ihnen lastete. Doch die Empathie verflüchtigte sich jedes Mal, wenn eine Frau sich auserwählt fühlte, weil sie als „Arierin“ im Lebensborn entbinden durfte. Wenn klar wurde, wie fest sie die Augen vor dem SS-Kontext verschlossen hatte. Wenn sie voll Verachtung von „Kroppzeug“ sprach und Kinder meinte, die mit einer Beeinträchtigung zur Welt gekommen waren. Ob es mir mit den Lebensborn-Vätern ähnlich gehen wird, nur mit umgekehrtem Vorzeichen? Ob aus Kopfschütteln, Empörung, Zorn … ein gewisses Verständnis entsteht? Nicht Entschuldigung, nicht Entschuldung, nur Verständnis? Ist es das, was der niederländische Schriftsteller Geert Mak meint, wenn er für sich formuliert: „Das Problem vieler Historiker ist, dass sie von heute aus zurückblicken und, weil sie alles besser wissen, von den Zeitgenossen verlangen, es auch schon zu wissen. Mich interessiert dagegen, wie die Zeitgenossen es damals sahen – und ich möchte ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen.“[1] Ein Anspruch, der wohl kaum einzulösen ist. Aber ein Appell, der zum Innehalten auffordert … [1]Zitiert nach Martin Ebel: Wenn Geschichte spricht. In „Die Welt“ 14.1.2006
Raubkind Er wälzt sich auf die Seite, zieht die Beine an, macht sich wieder lang – nein, so wird das nichts. Also auf die andere Seite. Sofort spürt er sein Herz. Wieder auf den Rücken. Der Wecker tickt. Dreißig Jahre ist das Ding bestimmt schon alt. Und funktioniert immer noch. Sonja schnarcht leise. Eigentlich stört es ihn. Aber er hat sich daran gewöhnt. Wie er sich immer an alles gewöhnt hat, von klein auf. „Ich war an diesem Tage nach Polzin gefahren, um mir aus dem Heim … unseren Pflegesohn Klaus zu holen. Er ist elternlos, im gleichen Alter wie Volker, kommt also mit ihm zusammen zur Schule, sieht nett aus, blond und blauäugig, und hat sich schon gut bei uns eingelebt. Da er lange in Heimen war, ist die Lage seiner Kleidung katastrophal. So renne ich täglich alle Geschäfte nach diesem und jenem ab ...“ Das hatte die Stiefmutter ihren Eltern geschrieben. Im Frühjahr 1944, kurz nachdem sie ihn aus dem Heim geholt hatte. Und ausgerechnet diese Stelle ist der Journalistin aufgefallen. Obwohl die Stiefmutter das Wort Lebensborn in ihrem Brief gar nicht erwähnt. Allerdings hat sie auch kein Wort darüber verloren, dass nicht nur der Zustand seiner Kleidung katastrophal war, sondern seine ganze Verfassung. Das hat Inge im Buch ergänzt. Er habe offene Wunden an Händen und Füßen gehabt, eine Folge von „Frostschäden“, schreibt sie. Dazu „seelische Schäden“ … Ja, ja, er war Bettnässer. Er konnte doch nichts dafür. Viele Heimkinder sind Bettnässer. Woher Inge das eigentlich weiß? Hat sie mit der Stiefmutter darüber gesprochen? Als das Buch herauskam, war Eva Schäfer doch schon lange tot.
Lebenslang Lebensborn |